In den vergangenen vier Jahren hat sich die Normandie auf ein besonderes Grossereignis vorbereitet: Zum ersten Mal seit 1990, seit die Weltmeisterschaften nicht mehr für jede Pferdesportart einzeln, sondern gleichzeitig an einem Ort ausgerichtet werden, finden die World Equestrian Games in Frankreich statt. Rund eine Million Equiden leben in unserem westlichen Nachbarland, mit 445?000 Pferden machen die «Selle Français» den grössten Anteil aus vor den Ponys (230?000), den Rennpfeden (185?000) und den Eseln (82?000). Dass diese Weltreiterspiele im Nordwesten des Landes ausgetragen werden, ist kein Zufall. Die Normandie ist die wichtigste «Pferderegion» im Hexagon: Mehr als ein Drittel aller französisch gezogenen Pferde und jedes zweite französische Vollblut wird dort geboren. Die einzigartigen klimatischen Bedingungen an der Nordwestküste sind optimal für die Pferdezucht, aus der sich eine regelrechte Industrie entwickelt hat mit rund 10?000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 1,4 Milliarden Franken. Jährlich finden in der Normandie über 3000 Turniere, Auktionen und Rennen statt, viele davon auf Weltklasseniveau.
800 Sportler und 900 Pferde
Nun fiebern die Normannen dem grössten Pferdesportanlass der Welt entgegen, der vom 23. August bis 7. September mit Schwerpunkt um Caen, die Hauptstadt der Region, ausgetragen wird. Erwartet werden rund 600?000 Besucher aus der ganzen Welt, 3000 freiwillige Helfer sowie 900 Pferde und 800 Teilnehmende aus 60 Nationen.
Hauptsponsor und Namensgeber der Alltech FEI World Equestrian Games 2014 ist das amerikanische Biotechnologieunternehmen Alltech, das bereits vor vier Jahren, als die Weltreiterspiele in der Nähe des Konzernhauptsitzes in Kentucky stattfanden, der grösste Geldgeber war. Die Veranstaltung im mittleren Westen der USA schrieb damals einen Verlust von rund 1,5 Millionen Franken. In die Weltreiterspiele in der Normandie investiert das auch in Europa tätige Unternehmen, das laut Firmen-Homepage «die Landwirtschaft unterstützt durch Ernährungsinnovationen bei der Ernährung der Weltbevölkerung, der Aufzucht gesunder Tiere und dem Schutz der Umwelt», rund zehn Millionen Euro, was etwa 15 Prozent des Gesamtbudgets ausmacht.
Die Eröffnungs- und Schlussfeier der Weltreiterspiele, die Wettbewerbe der Dressur- und der Springreiter sowie das Springen des Concours Complet werden in Caen im Fussballstadion Michel d’Ornano ausgetragen. Das Heimstadion des SM Caen, der in der Ligue 2 spielt, wurde dafür aufwendig zu einer Pferdesportarena umgebaut. Für die Voltigierer wurde im Kongresszentrum «Zenith» eine Wettkampfarena erstellt und Reining findet im benachbarten Messe- und Ausstellungsgelände statt. Das «Hippodrome», die Rennbahn von Caen, wird Austragungsort der Para-Dressur und der Fahrprüfungen sein. Auch der Marathon beginnt dort und führt dann ins Tal der Orne. Wer die Dressur- und die Geländeprüfung des Concours Complet mitverfolgen will, muss ins rund 80 Kilometer entfernte Nationalgestüt Haras du Pin fahren. Und der Startschuss für den 160-Kilometer-Ritt der Distanzreiter fällt im kleinen Örtchen Sartilly, von wo die Strecke ans Meer führt und dort entlang der Bucht des Mont Saint-Michel, der zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört und das Wahrzeichen der Region ist. Im Gestüt in Saint-Lô sowie in Deauville werden mit Horseball und Polo ausserdem zwei Demonstrationssportarten gezeigt.
Vorsichtig formulierte Ziele
Zur sechsten Austragung der Weltreiterspiele vor vier Jahren hatte der Schweizerische Verband für Pferdesport (SVPS) eine stattliche Delegation von 23 Athleten und 23 Pferden in die USA geschickt, die Kosten dafür beliefen sich auf rund 900?000 Franken. Die damalige Ausbeute lag deutlich unter den Erwartungen: Mit drei bis vier Medaillen hatten die SVPS-Verantwortlichen gerechnet, am Schluss gab es nur eine einzige, die Goldmedaille von -Patric Looser im Einzel-Voltige. Für diese diesjährigen Weltmeisterschaften wurden die Ziele vom Verband und den einzelnen Disziplinen denn auch deutlich vorsichtiger formuliert. Es dürften aber mehr Teilnehmende aus der Schweiz in die Normandie geschickt werden, da die Reisekosten an den Atlantik deutlich günstiger sind als der Flug über denselben. Ausserdem hat der SVPS sich die Teilnahme in sämtlichen acht Disziplinen zum Ziel gesetzt. Die definitive Anzahl Schweizer Teilnehmer wird erst Ende Juli nach den Sitzungen der Selektionskommissionen in den einzelnen Disziplinen bekannt sein.
Mit bisher 22 Medaillen an Olympischen Spielen ist der Pferdesport die dritterfolgreichste Sommersportart der Schweiz. Würde dieses Ranking die Ergebnisse von Weltmeisterschaften als Datenbasis verwenden, stünde die Schweiz weniger gut da. Im Springreiten, dem sportlichen Aushängeschild des Schweizer Pferdesports, konnten schon acht olympische Medaillen gewonnen werden, hingegen erst ein einziges Edelmetall an Weltmeisterschaften (Team-Bronze 1994 in Den Haag).
«Diese Statistik würden wir natürlich gerne aufbessern», sagt Andy Kistler, der am 1. März dieses Jahres das Amt des Equipenchefs der Springreiter übernommen hat. In der Planung der Sommersaison mit den Weltreiterspielen als Höhepunkt setzte der Reichenburger schon früh auf ein Quintett bestehend aus Olympiasieger Steve Guerdat und den bewährten Championatsreitern Pius Schwizer und Paul Estermann sowie den beiden Neulingen auf diesem Niveau, Jane Richard Philips und Romain Duguet. Diese fünf bestritten in wechselnder Zusammensetzung auch die vier für die Finalqualifikation zählenden Nationenpreise der Division 1. Zu Beginn mit durchschlagendem Erfolg: Den ersten Nationenpreis in Lummen, der für die Schweiz zur Finalqualifikation zählte, konnte die Schweizer Equipe gewinnen. Auf Lummen folgte rasch die Ernüchterung mit dem letzten Platz am CSIO La Baule sowie einem vierten Rang und sechsten Rang an den zwei weiteren und letzten Qualifikations-Nationenpreisen in St. Gallen und Rotterdam. In der Nationenpreis-Zwischenwertung lag die Schweiz zwar selbst nach Rotterdam noch auf dem komfortablen zweiten Zwischenrang hinter Frankreich, doch hat neben der Schweiz und Frankreich noch kein weiteres Team der Division 1 alle vier Qualifikationen bestritten, weshalb die Reitgenossen um die Finalteilnahme und das Saisonziel Ligaerhalt bangen müssen.
Andy Kistler hält am Team fest
«Diese letzten Ergebnisse der Equipe waren enttäuschend und deutlich unter den Erwartungen», räumt Andy Kistler ein. Doch bereits in St. Gallen bekräftigte er, dass er an das Team glaube und – wohl auch mangels Alternativen – für die WM-Planung an dieser Zusammensetzung festhalte. «Diese vier Reiter und die Reiterin verfügen über ausgezeichnete Pferde, welche die Anforderungen einer Weltmeisterschaft mit Bravour lösen können, wenn sie in einer guten Form sind», ist Kistler überzeugt. Er wird diese fünf Namen – vorausgesetzt, alle Reiter und Pferde bleiben bis dahin gesund – denn auch der Selektionskommission vorschlagen. Nach dem mässigen Abschneiden in Rotterdam ist Andy Kistler mit den WM-Kandidaten zusammengesessen. «Wir haben einen Rückblick auf die vier Nationenpreise gehalten, uns dann aber der WM-Planung gewidmet.» Zusammen mit Coach Thomas Fuchs wurde ein individuell auf die einzelnen Pferde abgestimmter Trainings- und Turnierfahrplan bis zu den WEG erstellt. Unmittelbar vor der Abreise in die Normandie Ende August findet wie im vergangenen Jahr ein mehrtägiger Kaderzusammenzug statt – voraussichtlich wieder auf der Anlage von Pius Schwizer. Dort soll noch einmal gemeinsam trainiert, der Teamgeist gefördert und auch im mentalen Bereich gearbeitet werden. Nach Caen reisen werden dann fünf Schweizer Springreiter – wem die Rolle des Reservisten zufällt, wird Kistler erst nach dem Vet-Check am Sonntag, 31. August entscheiden. Die Zielsetzung für die Springreiterequipe ist ein Rang unter den ersten fünf Mannschaften, womit der Quotenplatz für die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro gesichert wäre. Die Spitze ist bei den besten Springreiterequipen der Welt so eng, dass schon ein Abwurf oder sogar ein einzelner Zeitfehler über Sieg und Niederlage entscheiden können. Gefragt ist also auch das nötige Quäntchen Glück oder wie es Andy Kistler formuliert: «An einem guten Tag ist alles möglich.» Das Gleiche gilt auch für den Einzelwettbewerb, wo man um eine Medaille mitreiten möchte. Und vor zwei Jahren in London hatte Steve Guerdat ja gezeigt, dass an einem guten Tag tatsächlich alles möglich ist …
Im Voltige sind zwei Medaillen möglich
Ein sicherer Wert in Bezug auf einen Medaillengewinn an Weltmeisterschaften waren bisher die Voltigierer. Seit den ersten Weltreiterspielen 1990 Stockholm haben die «Voltis» insgesamt zehn WM-Medaillen gewonnen – vier goldene und sechs silberne –, was die Schweiz zur zweiterfolgreichsten Voltige-Nation hinter Deutschland macht. Mit der Voltigegruppe Lütisburg stellt die Schweiz ausserdem den «amtierenden» Weltmeister.
Für die WEG 2014 mussten sich die Voltigiererinnen und Voltigierer in vier Qualifikationsturnieren bis Ende Juni empfehlen – sollte die Selektionskommission damit nicht genügend Entscheidungsgrundlagen haben, können zusätzlich auch noch die Ergebnisse vom CVIO in Aachen berücksichtigt werden. Zwei WM-Medaillen werden von der Disziplin angestrebt: zum einen bei den Gruppen, wo die Schweiz als Titelverteidigerin an den Start geht, zum anderen im Damen Einzel, wo die Zürcherin Simone Jäiser seit geraumer Zeit erfolgreich an der Weltspitze mitturnt.
Grosser Rückstand in der Dressur
Mit sechs Team- und drei Einzelmedaillen an Weltmeisterschaften stehen die Schweizer Dressurreiter den Voltigierern punkto Erfolg nur wenig nach – allerdings liegen die «goldenen Zeiten» der Schweizer Dressurreiterei bereits einige Zeit zurück. Als die Voltigierer 1990 in Stockholm ihre erste WM-Medaille gewannen (Gold mit der Gruppe), gab es zum letzten Mal Edelmetall für die Dressurreiter (Bronze im Team). Und daran wird sich auch in diesem Jahr nichts ändern. Während vor vier Jahren in Kentucky mit Marcela Krinke Susmelj (die gute Zehnte wurde) nur eine Einzelreiterin vertreten war, ist es nun das Ziel des Verbandes, mit einem Team in die Normandie zu reisen. Dieses wird allerdings nicht in die Entscheidung eingreifen können. «Ein Rang unter den ersten zwölf ist bereits ein Erfolg», sagt Martin Walther, Leiter der Disziplin Dressur im SVPS. Zu gross ist der momentane Rückstand der Schweizer Dressurreiter auf die Weltspitze. Während die besten Dressurreiter der Welt wie die haushohen Favoritinnen Charlotte Dujardin oder Helen Langehanenberg Traumnoten im Bereich von 80 und sogar 90 Prozentpunkten erreichen, ist einzig die Schweizer Teamleaderin und Weltcupfinalistin Marcela Krinke Susmelj in der Lage, regelmässig über 70 Prozent zu reiten. Die Selektionsvorgaben des SVPS verlangen, dass die Mannschaft (bestehend aus vier Reitern, deren beste drei Ergebnisse zählen) in der Lage sein muss, 202 Prozent zu erreichen. Wer diese vier Teamreiter sind, steht erst nach der Selektions-sitzung vom 21. Juli fest. Zum heutigen Zeitpunkt erfüllen mehrere -Reiterinnen und Reiter die Selektionskriterien. Und an den Schweizer Meisterschaften 2013 in Humlikon hatte sich gezeigt, dass hinter Marcela Krinke Susmelj die Ränge 2 bis 8 (Elisabeth Eversfield-Koch, Gilles Ngovan, Hans Staub, Melanie Hofmann, Markus Graf und Caroline Häcki) so dicht beisammen liegen, das eigentlich jeder in der Lage ist, den anderen zu schlagen. Erschwerend kommt die momentane Unruhe in der Disziplin Dressur hinzu, die durch den Rücktritt von Sportchef Christian Pläge und Equipenchef Michel d’Arcis vor wenigen Wochen entstanden ist. Noch wurden vom SVPS keine Nachfolger kommuniziert, was die Spekulationen anheizt und offenlässt, wer die Dressurreiter in die Normandie begleiten wird.
Weitere Teams in Schweizer Farben
Auch in den Disziplinen Fahren und Endurance (siehe Kavallo 7/14) ist es das Ziel, eine Mannschaft an die Weltreiterspiele entsenden zu können. Bei den Fahrern wird gemäss Disziplinenleiter Pius Hollenstein ein Platz im Mittelfeld angestrebt mit einem Fahrer in den ersten fünf Rängen. Die Endurance-Reiter, bei denen bereits mehrere Paare die FEI-Vorgaben erfüllen, haben sich einen Rang unter den besten sechs Mannschaften zum Ziel gesetzt. In der Disziplin Concours Complet sieht man die WEG als Zwischenziel auf dem Weg an die Olympischen Spiele und plant, zwischen zwei bis vier Reiterinnen und Reiter in die Normandie zu schicken mit dem Ziel, die Prüfung auf Viersterneniveau zu beenden. In der Disziplin Reining sind einige potenzielle WEG-Kandidaten vom Verletzungspech verfolgt, sodass es zurzeit unsicher ist, ob sich noch genügend Paare qualifizieren können und eine Mannschaft in die Normandie geschickt werden kann. Die Disziplin Para-Dressur, die sich im Rahmen des CSIO St. Gallen der Öffentlichkeit vorgestellt hat und am gleichen Wochenende ein Kadertraining mit Nationalcoach Franz-Martin Stankus durchführte, möchte mit einem Dreierteam bei den WEG antreten. Die Zielsetzung des Verbandes sieht für die Para-Dressur im Team- wie im Einzelwettbewerb eine Klassierung im ersten Ranglistenviertel vor.
Jeden Donnerstagabend erhalten Newsletter-Abonnentinnen und -Abonnenten
ausgewählte Artikel sowie die nächsten Veranstaltungen bequem per E-Mail geliefert.