Lassen sich das Temperament und der Charakter eines Pferdes messen? Und kann man vor allem mit den erhaltenen Werten auch züchten? Subjektive Äusserungen von vielen Reitern zum Wesen ihrer Pferde sind da zuhauf im Umlauf. Aber ist der Charakter eines Pferdes objektiv messbar? Die frischgebackene Doktorin Patricia Graf wollte es wissen und hat sich über Jahre diesem Thema verschrieben. Die Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft um das Pferd verlieh ihr dieses Jahr dafür sogar den Förderpreis. In der Laudatio hiess es: «Ihre Arbeit überzeugte die Jury durch eine beeindruckende Serie von Versuchen, erstklassige Analysen und praxisnahe Schlussfolgerungen.» Was die Wissenschaft überzeugt hat, heisst gleichzeitig auch: gute Nachricht für alle Züchter und Reiter. Denn: Ja, man kann das Temperament und den Charakter eines Pferdes objektiv messen und auch darauf züchten.
Interieurmerkmale sind wichtig
Dass dies für viele Pferdefreunde eine wirklich gute Nachricht ist, konnte die Wissenschaftlerin aufgrund einer Befragung von Pferdesportlern feststellen: Knapp 50 Prozent sehen die sogenannten Interieurmerkmale, also Temperament und Charakter, als Möglichkeit, sich das Leben zu vereinfachen. Fast genauso viele gaben an, dass sich das Verhältnis zwischen Tier und Mensch mit guten Eigenschaften verbessern lässt. Und nicht zuletzt -resultiert aus gutmütigen Charakteren ein angenehmerer und sichererer -Umgang.
Der von Patricia Graf entwickelte Verhaltenstest wurde auf einem 20 mal 20 Meter grossen Testareal durchgeführt: Jedes Pferd musste zwischen zwei am Boden liegende blauen Bällen hindurchgehen. Ebenso musste ein roter Ball, der von einer Rampe rollte, passiert werden. Zudem galt es über eine mit blauem Teppich bespannte Brücke sowie durch eine Gasse aus -Pylonen und Windschutznetzen zu gehen.
In einem Zeitraum von drei Jahren absolvierten 1028 Pferde diesen Temperamenttest an Leistungsprüfungen, Stutenschauen, Fohlenchampionaten und in Privatbetrieben in ganz Deutschland. Die Pferde wurden von ihnen unbekannten Berufsreitern oder von einer dem Pferd bekannten Person übernommen und entweder geritten oder geführt. Während des Temperamenttests wurden das Verhalten -sowie Merkmale wie Aktivität, Emotionalität, Umfang der Hilfen des Reiters oder der Führperson, Zeit bis zur Beruhigung nach dem «Hindernis» und das Interesse am «Hindernis» von einem geschulten Richter beobachtet und protokolliert.
Dabei wurden die folgenden Merkmale notiert: Aktivität, Erregung, reiterliche Hilfen, Interesse am «Hindernis», Zeit bis zur Beruhigung sowie die Reaktivität der Pferde an zwei Punkten. Das Optimum war in den meisten Fällen die 0, die Skala ging von –5 bis +5. Bei der Reaktivität war die 10, also «gelassen», die beste Note. Die Notenvergabe geschah zu verschiedenen Zeitpunkten: beim Betreten des Testfeldes, vor und nach jedem «Hindernis» sowie beim Verlassen des Parcours.
Äussere Einflüsse ausgeschaltet
In den meisten Fällen hatte weder der Reiter noch die Führperson, der Test-ort, das Trainingslevel oder der Testmodus einen Einfluss auf die Ergebnisse. Betrachtet man das Mittel aller Noten bei der Reaktivität, so lag das bei 7,3 Punkten. Betrachtet man nur die «Hindernisse», gab es im Mittel -eine 7,2 für die Reaktivität. Bei der -anschliessenden Verrechnung mit den Pedigreeinformationen der Pferde zeigte sich, dass sich die Reaktivität vererbt. Temperamentmerkmale, die mit Hilfe des objektiven Temperamenttests erfasst wurden, weisen Erblichkeiten im Bereich zwischen 2 Prozent für das Interesse für «Hindernisse» und 46 Prozent für die Reaktivität auf. Die Erblichkeit der hier erfassten Merkmale liegt also in einem züchterisch nutzbaren Rahmen.
Zudem ist erwiesen, dass sich Leistung und Verhalten nicht negativ beeinflussen. Also ein ruhiges, ausgeglichenes Pferd kann ohne weiteres ein Grand-Prix-Pferd sein. Auch die züchterische Bearbeitung nur des einen Merkmals, also zum Beispiel der Leistung, bedeutet nicht gleichzeitig eine damit einhergehende Verschlechterung im Merkmal Verhalten. Positiver ausgedrückt: Wer leistungsbereite Pferde züchten möchte, kann auch auf Merkmale wie Reaktivität züchten.
Wer so einen Verhaltenstest in sein Zuchtprogramm integrieren möchte, fragt als Zuchtleiter sicher auch nach den zu erwartenden Kosten. Dafür wurden zum einen die Kosten und der Aufwand des verwendeten Temperamenttests ermittelt und analysiert, zum anderen sollte mit Hilfe einer -Befragung geklärt werden, welchen Nutzen die Züchter und Reiter von -einer solchen Beurteilung der Pferde auf Leistungsprüfungen sehen. Die Kosten der Einführung eines objektiven Temperamenttests entsprechen, nach Einbeziehung aller Faktoren, rund 18 Euro je Pferd. Den Kosten steht die Zahlungsbereitschaft für eine verbesserte, objektivierte Tempe-ramentbeurteilung gegenüber. Insgesamt 56,7 Prozent der Befragten wären bereit, mehr als 11 Euro für eine objektive Interieurbeurteilung auf Leistungsprüfungen im Feld zu investieren. Im Rahmen von Stationsprüfungen wären sie sogar bereit, mehr als 30 Euro aufzuwenden. Die Wertsteigerung eines im Temperament positiv bewerteten Pferdes um 5 Prozent, die von den Teilnehmern der Umfrage durchschnittlich angenommen wird, würde zusätzlich den Gewinn beim Pferdeverkauf steigern. -Die Ergebnisse zeigen, dass die Kosten einer objektiven Temperamentbeurteilung durch eine erhöhte Zahlungsbereitschaft der Käufer kompensiert werden können, sodass die Einführung eines -Temperamenttests zur objektiven Interieurbeurteilung in Form der vor-gestellten Untersuchungen grundsätzlich finanzierbar ist.
Nun bleibt nur noch zu hoffen, dass die von Patricia Graf vorgestellten wissenschaftlichen Ergebnisse von Zuchtverbänden gehört wurden. Dass «brave» Pferde nicht schon morgen vom Himmel fallen, auch wenn schon bald dieser Test in die Zuchtprogramme aufgenommen wird, ist natürlich allen klar. Pferdezucht ist nun einmal mit einem hohen Generationsintervall verbunden. Geduld ist also nicht nur eine Tugend im Umgang mit Pferden, sondern auch bei ihren Züchtern.
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