Manch einem dürfte folgende Situation bekannt vorkommen: Flüssig reiten Ross und Reiter durch den Parcours, doch plötzlich geht gar nichts mehr. Die Hindernisstangen ragen wie ein Hochhaus in die Luft und scheinen unbezwingbar. Krallen sich Angst und Zweifel in den Gedanken erst einmal fest, handelt es sich meist nur noch um ein paar Sekunden bis das Pferd sich weigert, das Hindernis zu überwinden. Oft ist es dann mit der Konzentration vorbei und weitere misslungene Anreitversuche enden mit Glockengeläut. Bei der nachträglichen Analyse des Ritts realisiert der Reiter, dass das Versagen auf seine Kappe geht. Denn in den wenigsten Fällen trägt das Pferd die Schuld. Viele Reiter können in Stresssituationen nicht die gewünschte Leistung abrufen und übermitteln diese Nervosität oft unbewusst an das Tier. Wie schön wäre es da, wenn dieses Problem ganz einfach mit mentalem Training in den Griff zu bekommen wäre. Mentaltraining = erfolgreich im Kopf? Zu schön, um wahr zu sein, einen Haken muss es doch geben, denkt sich so mancher. Denn wäre es so einfach, würden nicht alle es anwenden?
Ungenutztes Leistungspotenzial
Die Ursache dieser Skepsis liegt in den inneren, unbewussten Überzeugungen vieler Menschen. Sie glauben, für ihren Erfolg hart arbeiten zu müssen. Da passt die Möglichkeit, durch ein paar Minuten «rumliegen» etwas ändern zu können, nicht ins Konzept. Für manchen ist zudem nur schon der Gedanke, sich hinzulegen und zu entspannen, ein Graus. Wer aber mit seinem Pferd die gesteckten Ziele erreichen möchte, der sollte nicht nur den Vierbeiner fit halten. Die mentale Stärke des Reiters ist ebenso wichtig und ausschlaggebend für den Erfolg. «Nur ungefähr 35 Prozent aller Reiter erreichen ihre Bestleistung zum geplanten Zeitpunkt», sagt die Psychologin und Sport-Mentaltrainerin Ursula Liechti. «Mentaltraining erhöht die Belastungstoleranz um rund 30 Prozent.» Durch Mentaltraining verbessert sich die mentale Stärke, und der Athlet lernt sein eigenes Leistungsvermögen besser kennen. Oder anders formuliert: Der Sportler kann seinen Körper, seine Handlungen und seine Gedanken intuitiv immer besser dem Geschehen auf dem Reitplatz anpassen. Dass der Weg fort von der kopfkontrollierten hin zur intuitiven Bewegungssteuerung nicht einfach ist, weiss Ursula Liechti nur zu gut. Auch sie stiess hoch zu Ross schon des öfteren an ihre mentalen Grenzen. Liechti kann deshalb sehr genau nachempfinden, wie ihre Kunden sich fühlen, wenn sie bei ihr anklopfen. Zum Kundenstamm der Mentaltrainerin gehören Reiter jeden Alters und jeder Stufe, auch Profi s aus allen Disziplinen. Denn gerade im Spitzensport ist der Druck enorm. «Vielen Profis reitern graust es, wenn sie wissen, dass an einem Turnier die Pferdebesitzer und Sponsoren anwesend sind», erzählt die Thurgauerin. Wer sich in Gedanken noch ein ausverkauftes Hallenstadion vorstellt, der kann sich etwa ausmalen, was vor einem solchen Ritt im Innern eines Profireiters möglicherweise alles vor sich geht. Seit 2000 geben sich also Profis und Hobbyreiter die Klinke bei Ursula Liechti in die Hand. Oder den Telefonhörer. Da nicht alle Kunden von Ursula Liechti die nötige Zeit haben, ein oder mehrere Male in der Woche in ihre Praxis ins thurgauische Engelswilen zu fahren, führt Liechti auch telefonische Beratungen durch.
Die Macht der Vergangenheit
Ob am Telefon oder beim direkten Kontakt, die Sport-Mentaltrainerin geht auf jeden Kunden individuell ein. In einem ersten Gespräch mit ihm ermittelt sie, wo das Problem liegen könnte. Liechti machte die Erfahrung, dass die meisten Kunden ziemlich genau wissen, wo es hapert und warum sie nicht weiterkommen. Da ist jeweils die Rede von unvergessenen Stürzen, schlechten Turniererfahrungen oder allgemeinen Stresssituationen mit dem Pferd und den Menschen im Umfeld. Ursula Liechti hört aufmerksam zu und achtet dabei auf die Gestik und Wortwahl ihres Gegenübers. «Die ganze Körperhaltung und Sprache eines Menschen sind Informationsträger und können schon viel darüber verraten, wie eine Person funktioniert und wie sie handelt», erklärt Liechti. Wer bereits von Beginn an sagt: «Ich kann nicht», der hat innerlich bereits aufgegeben und so seine Kräfte vermindert. Ziel jedoch ist es, dass Kopf, Gefühl und Körper eine physische Sicherheit erreichen und zusammen spielen. Damit dies gelingt, eignet sich die Trockenübung in Gedanken. So sitzt der Sportler bei sich zu Hause oder bei Ursula Liechti auf dem gemütlichen Sofa und versucht, sich mit geschlossenen Augen in die bewusste angstmachende Situation zu bringen. Erscheint diese erst einmal vor dem inneren Auge, kann der Athlet versuchen, den Ablauf des Geschehenen zu analysieren und ihn dahingehend zu verändern, wie er es gerne hätte. Anstatt eines Schreckensszenarios läuft die urpersönliche Erfolgsstory im Kopfkino ab. Damit lassen sich schlechte Erfahrungen, wie bei einer Diskette, mit positiven Gefühlen beschreiben. Wer sich auf ein mentales Training einlässt, ist bereit, sich auf der persönlichen Ebene weiterzuentwickeln. Dieser Prozess geschieht nicht von heute auf morgen und oft werden in den Sitzungen auch persönliche Dinge, fernab vom Thema Sport, besprochen. Deshalb ist es wichtig, dass man sich von einem fachmännischen Coach beraten lässt.
Der richtige Coach
Doch welcher Coach ist das? Wie erkennt man den Unterschied zwischen einem «Scharlatan» und einer qualifizierten Person? Für Ursula Liechti ist der Fall ganz klar. «Ein guter Coach darf keine Methodik verkaufen», sagt sie. Beim mentalen Training gibt es zwar Trainings-Modelle. Diese müssen jedoch auf die einzelne Person angepasst werden. Denn bekanntlich denkt, fühlt und handelt kein Mensch gleich. Doch nicht nur die Kunden müssen bereit sein, sich weiterentwickeln. Auch ein Coach sollte sich immer auf den neusten Stand bringen. Ursula Liechti beispielsweise absolvierte ihre Ausbildung in Leipzig an der Akademie für Sportwissenschaften und Sportpsychologie. Seit elf Jahren arbeitet die 56-Jährige als selbständige Mentaltrainerin. Kein Grund für sie, sich nicht weiterzubilden. «Ob auf der neurologischen oder auf der Sportmentalseite, ich bilde mich fast täglich weiter.» Ebenfalls wichtig ist die Erfahrung eines Coachs. Ursula Liechti hat bereits mit vielen verschiedenen Menschen gearbeitet. Von diesem Wissen profitieren auch ihre Kunden. Manche gehen über eine längere Zeit ins Mentaltraining, andere nur kurz. Dies hängt ganz von der eigenen Situation ab und wie schnell sich Fortschritte zeigen. Wer danach sagen kann: «Ich bin frei im Kopf und top im Reiten», hat sein Ziel erreicht und die nötigen Kräfte mobilisiert. Denn Siege, die finden zuerst im Kopf statt.
text Lucrecia Salis
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